From Easy Listening To Hard Listening
Scott Walker - Der Unfassbare
Kein populärer Musiker
und keine Band hat einen derartigen Stilwechsel vollzogen wie Scott Walker
während seiner 50jährigen Karriere. Vom kitschigen „Easy-Listening-Pop“ der
60er Jahre führte es den Amerikaner zur experimentellen, nahezu unhörbaren
Avantgarde. Es war ein langer Weg vom melodiösen „The Sun Ain‘t Gonna Shine Anymore“
(1966), zum völlig entrückten „Carla“ (2006), wo der Rhythmus auf Schweinehälften getrommelt wird. Warum auch
immer, Walker hat seinen Wandel nie erklärt.
Sein jahrzehntelanges
Schweigen gegenüber der Presse hat ihm den Ruf eines skurrilen und schrulligen
Exzentrikers eingebracht. Zu Unrecht, wie sich herausstellte. Walker wollte
sich schlicht seinen musikalischen Visionen widmen und ist bewusst aus dem
Musik-Presse-Zirkus ausgestiegen. Journalisten reagieren oft beleidigt, wenn
bekannte Künstler die ungeschriebenen Gesetzte der Medien zu ignorieren beginnen.
Natürlich verlangt gerade Walkers komplexes und schwieriges Spätwerk nach einer
Erklärung. Die meisten Hörer konnten die Musik weder fassen noch erfassen. Was
sich der Künstler dabei gedacht hat, solch sperrige Musik zu veröffentlichen,
das waren berechtigte Fragen. Dennoch, Walkers Schweigen legte den Fokus umso
mehr auf die Musik. Vielleicht wollte er gerade das. Der Hörer musste sich der Musik
widmen ohne begleitenden oder erklärenden Flankenschutz.
Nach seiner
kurzen Karriere mit den Walker Brothers welche von 1965 bis 1967 sogar
den Beatles Konkurrenz machten, fühlte sich Scott bereits eingeschränkt und
schubladisiert. Während sein Bariton reihenweise Teenager-Herzen zum Schmelzen
brachte, wollte er kein „Posterboy“ sein. Er verließ die Band am kommerziellen
Höhepunkt.
Von 1967 bis 1970
veröffentlichte Scott Walker vier Solo-Platten, betitelt mit Scott 1 bis 4. Die
Lieder pendelten zwischen Chansons und komplexen Singer/Songwriter-Pop. Die
Texte waren schwermütig und behandelten im weitesten Sinne Verlust und
Trennung. Die Platten waren großartig und wurden mit jedem Album besser. Konträr
dazu, verkauften sie sich jedoch zunehmend schlechter. „Scott 4“ war ein
Meisterwerk und ein Flop.
Die Plattenfirma
machte Druck und nötigte den Musiker „kommerzielle Musik“ zu machen. Es folgten
weitere erfolglose und auch schwächeren Alben. Walker war enttäuscht über die
Erfolgslosigkeit und über seine Plattenfirma, die ihn nötigte, Musik zu machen,
die er nicht wollte.
Auch eine
Wiedervereinigung mit den Walker Brothers brachte nicht den gewünschten
Erfolg, zeigte jedoch, in welche Richtung sich Scott Walker weiterentwickeln möchte.
„The Electrician“ ist ein meisterliches Stück und schlägt
komplett neue Seiten auf.
Scott Walker zog
sich 1979 aus der Musikszene zurück und tauchte unter.
Seine Rückkehr
überraschte und schockierte Fans wie Kritiker. Walkers neues Soloalbum „Climate Of Hunter“ wurde 1984 veröffentlicht. Mark Knopfler
spielte auf einem Lied die Gitarre und wunderte sich später, woran er beteiligt
war. Billy Ocean sang; sein Beitrag war nur schwer auszumachen. Alle Musiker
spielten ihre Instrumente allein ein und durften die anderen Beiträge nicht
hören. Nur Walker hatte Kontrolle über das Endergebnis.
Die Platte war
höflich gesagt befremdlich und der größte Flop des Jahres für Walkers neue
Plattenfirma, Virgin-Records. Einige Lieder hatten keine Titel und wurde
nummeriert. Die Musik zeigte schlicht, dass Scott Walker endgültig sein Popstar-Dasein
abgeschlossen hat und an neuen Ausdrucksweisen arbeitete.
„Climate Of Hunter“
als musikalisches Experiment zu entdecken ist durchaus spannend und
bereichernd. Nur waren weder Fans noch Kritiker darauf vorbereitet. Und mit
dieser Platte begann auch Walkers konsequente Verweigerung, seine Musik zu
erklären und sich an dem Promo-Zirkus der Plattenfirmen zu beteiligen. Der
Künstler schwieg und machte seltsame Musik.
Diese war jedoch
einflussreich und aufregend. Einer der vielen Bewunderer war David Bowie. Walkers
Einfluss ist nachzuhören auf Bowies Alben von 1977 bis 1979. Bowie bezeichnet
auch Walkers Album „TILT“ (1995) als bestes Album aller Zeiten.
1985 verschwand Walker
erneut aus der Szene. Es entstanden sogar Gerüchte das er verstorben wäre. 1995
folgte ohne Vorwarnung das nächste Werk,„TILT“. Ein dunkler bedrohlicher
Monolith. Streckenweise unhörbar mit Klängen von scheinbar fremden Welten. Es
gelang damals keinem Kritiker, das Werk ansatzweise zu erfassen oder zu
beschreiben. Die frühen Fans des Pop-Sängers wurden damit endgültig vertrieben.
Neue interessierte Hörer aus der Avantgarde versuchten sich diesem Monster zu
nähern. Walker spielte endgültig in seiner eigenen Liga. Wie ein Alien, fremd
und unverständlich.
Elf Jahre später
folgte mit „The Drift“ ein ähnlich rätselhaftes Werk. Mittlerweile hat sich „TILT“
den Ruf eines Geniestreiches erworben und der Künstler wurde vom Feuilleton
zwar nicht begriffen, jedoch gefeiert. Man wollte wohl dabei sein, wenn was
vermeintlich Großes geschieht, das man dennoch nicht versteht.
Ich werde an
dieser Stelle nicht versuchen das Spätwerk von Scott Walker zu beschreiben. Am
Ende des Artikels gibt es einige YouTube-Links. Jeder kann selbst auf
diese Abenteuerreise gehen.
2006 erschien die
außergewöhnliche Dokumentation „30.Century-Man“.
Scott Walker: 30
Century Man - Official Theatrical Trailer - Oscilloscope Laboratories - YouTube
Der Zuseher
staunte, dass Scott Walker weder schrullig noch exzentrisch wirkte, sondern
vielmehr ein netter und liebenswerter Zeitgenosse zu sein schien. Ein Künstler,
der seine Vorstellungen von Musik verwirklichen möchte und schlicht kein
Interesse daran hat, sich laufend den Medien zu erklären.
2019 starb Scott
Walker. Bis zu seinem Tod arbeitete er an neuer Musik, welche noch
unveröffentlicht ist. Eine seiner letzten Aussagen gegenüber seinem
Tontechniker war, dass er sich jetzt in der Lage fühle, seine musikalischen
Vorstellungen zumindest zu 80 % umzusetzen.
Der Mann bleibt
unfassbar.
LINKS:
The Walker
Brothers 1966
🔥The Walker Brothers (Official Video) The Sun Ain't
Gonna Shine Anymore ᴴᴰ - YouTube
Scott Walker 1967
Scott Walker -
Mathilde - YouTube
Scott Walker 1969
Scott Walker - The
Seventh Seal - YouTube
The Walker Brothers 1978
The Walker Brothers -
The Electrician - YouTube
Scott Walker 1984
Scott Walker - [Track
Three] - YouTube
Scott Walker 1995
Scott Walker 2006
Scott
Walker - Clara - YouTube (hier wird auf Schweinehälften
getrommelt)
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